Schwindel verstehen
Krankheitsbilder und Therapie
Gutartiger Lagerungsschwindel
(benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, BPLS) |
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Symptome: |
Durch Kopf- oder Körperlageänderung in bestimmten Ebenen ausgelöste, meist heftige kurze Drehschwindelattacken |
Dauer: |
mehrere Sekunden bis maximal 1 Minute |
Klinischer Befund: |
Bei Lagerung in der Ebene des betroffenen Bogenganges Auslösung charakteristischer Augenrucke («Lagerungsnystagmus»), möglich: Übelkeit und Erbrechen |
Mechanismus: |
Otolithen (Ohrsteinchen) gelangen in das Bogengangssystem (Drehbeschleunigungsmesser) |
Therapie: |
Befreiungsmanöver zur Verlagerung der Otolithen aus dem betroffenen Bogengang, Lagerungstraining, um ein Wiederanlegen der Ohrsteinchen an einem Bogengang zu vermeiden. |
Akute Funktionsminderung eines Vestibularapparates
(Peripheres vestibuläres Defizit, Neuropathia vestibularis oder Neuritis vestibularis) |
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Symptome: |
Akut einsetzender Dauerdrehschwindel über Tage, Gangunsicherheit mit Fallneigung zur betroffenen Seite, Übelkeit, Erbrechen |
Klinischer Befund: |
Spontane Augenrucke zur gesunden Seite, pathologischer Kopfimpulstest auf der betroffenen Seite; Nachweis einer Untererregbarkeit des Vestibularappartes durch kalorische Spülung oder Video-Kopfimpulstest |
Mechanismus: |
unbekannt, möglicherweise virale entzündliche Veränderungen am Gleichgewichtsnerven oder an den Rezeptoren des Vestibularapparates |
Akute Therapie: |
Zur Schwindelunterdrückung medikamentöse Behandlung mit Antivertiginosa für maximal drei Tage; Gegebenenfalls Kortison gegen entzündliche Vorgänge am Nerven; Gleichgewichtstraining zur Verbesserung der zentralen Kompensation, falls nötig vestibuläre Physiotherapie (lässt sich durch ein Extrakt aus Ginkgoblättern, EGb761® unterstützen, indem es die Kompensation zusätzlich fördert.) |
Menière’sche Erkrankung
Symptome (klassische Trias): |
Drehschwindel von mehreren Minuten und Stunden bis höchstens einem Tag; Fluktuierende Ohrsymptome, Ohrgeräusch («Rauschen»), Druck/Völlegefühl im Ohr, einseitige Hörminderung während der Schwindelattacke, die bei längerem Krankheitsverlauf auch bleiben kann |
Klinischer Befund: |
In der Attacke spontane Augenrucke, akuter Hörverlust vorwiegend in den tiefen Frequenzen und verstärktes Ohrgeräusch; bei längerem Krankheitsverlauf häufig verbleibender einseitiger Hörverlust und einseitige Unterfunktion eines Gleichgewichtsorgans |
Mechanismus: |
Erhöhter Druck im Innenohr mit Beteiligung des Vestibularapparates durch Überschuss von Innenohrflüssigkeit im Innenohr (=endolymphatischer Hydrops) mit Einreissen der Trennwand zwischen den Innenohrräumen (= Anfall) |
Therapie: |
Eine Stufentherapie ist je nach Schweregrad angezeigt. Triggerprophylaxe. Medikamentöse Basistherapie, Gleichgewichtstraining zur Stabilisierung der Gleichgewichtsfunktion. Bei zunehmendem Leidensdruck: mögliche Paukenröhrcheneinlage, Einspritzen von Kortison ins Mittelohr. Bei fortgeschrittenem Stadium invasive Eingriffe wie chemische Zerstörung des Gleichgewichtsorgans, Durchtrennung des Gleichgewichtsnervs, Entfernung des Gleichgewichtsorgans oder eine Cochlea-Implantation bei Taubheit |
Beidseitige Funktionseinschränkung des Vestibularapparates
(Bilaterale Vestibulopathie) |
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Symptome: |
Schwankschwindel mit Scheinbewegungen der Umwelt (Oszillopsien) beim Gehen, Zunahme im Dunkeln und auf unebenem Untergrund, in Ruhe beschwerdefrei |
Klinischer Befund: |
beidseitiger pathologischer Kopfimpulstest; breitbeiniges Gangbild; Gang- und Stehprüfungen mit geschlossenen Augen gestört |
Mechanismus: |
beidseitiger Ausfall der Vestibularapparate und damit der Beschleunigungsmesser mit konsekutiver Störung der reflektorischen Blickfixation und der Haltungsregulation durch fehlende Aktivierung der Reflexe zwischen den Gleichgewichtsorganen und den Augen sowie zwischen den Gleichgewichtsorganen und den Muskeln |
Therapie: |
Intensives Gleichgewichtstraining |
Vestibularisparoxysmie
Symptome: |
In der Regel nur wenige Sekunden andauernde Dreh- und/oder Schwankschwindel-Episoden, die gehäuft durch bestimmte Kopfpositionen provoziert werden |
Befund: |
Im MRI des Schädels kann man häufig einen pathologischen Kontakt zwischen einem Blutgefäss und dem Gleichgewichtsnerv nachweisen |
Mechanismus: |
Durch den pathologischen Gefäss-Nerven-Kontakt meist der A. cerebelli inferior anterior mit dem N. vestibularis kommt es zu einer mechanischen Reizübertragung des Pulses auf den Nerven |
Therapie: |
Therapie mit Carbamazepin zur Membranstabilisierung oder operative Trennung der Ummantelung des Gleichgewichtsnervs |
Zentral-vestibulärer Schwindel
Symptome: |
Dreh- oder Schwankschwindel mit/ohne Übelkeit unterschiedlicher Dauer, in 50 % der Fälle können Begleitsymptome wie Doppelbilder, Missempfindungen um den Mund herum, Gesichtslähmung, Schluck- oder Sprechstörungen, Fühlstörungen an Armen/Beinen, Lähmungen oder Körperschwankungen auftreten |
Klinischer Befund: |
meist zentrale Störungen der Blickmotorik, senkrecht schlagende Augenrucke (Downbeat- oder Upbeatnystagmus) oder zentrale Syndrome und Störungen der Hirnnervenkerne*, häufig normaler Kopfimpulstest |
Mechanismus: |
Unterschiedlich. Durchblutungsstörungen, Blutung, Tumoren, Entzündungen, Mangelerscheinungen, Epilepsie, degenerative Erkrankungen (z. B. spinozerebellären Ataxien, Parkinson-Syndromen, Normaldruckhydrocephalus) u. a. |
Therapie: |
Je nach Ursache unterschiedlich |
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Zentral-vestibuläre Schwindelformen sind Ausdruck einer Funktionsstörung des Gehirns, insbesondere im Bereich des Stammhirns oder spezifischen Integrationszentren wie z. B. dem Kleinhirn, Thalamus oder spezifischen Teilen der Grosshirnrinde (Inselrinde). Sowohl beim akuten Schwindel als auch bei chronischen Schwindelbeschwerden stellt sich mitunter die Frage, ob es sich um eine periphere oder zentrale Schwindelursache handelt. |
Schwindelmigräne (Vestibuläre Migräne)
Die Schwindelmigräne stellt eine Unterform der Migräne dar. |
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Symptome: |
Episodisch auftretende Drehschwindel oder Schwankschwindelattacken von Sekunden/Minuten bis Stunden und Tagen, häufig verbunden mit allgemeinen Migränezeichen wie Photo- und Phonophobie während der Attacke, während ca. 30 Prozent aller Attacken ohne begleitende Kopfschmerzen auftreten |
Klinischer Befund: |
Variabel. Ruckartige Augenbewegungen möglich, meist leichte zentrale Störungen der Blickmotorik, auch im Intervall |
Mechanismus: |
Als Mechanismus wird einerseits analog zur Migräne die «spreading depression»- Hypothese diskutiert, wobei der Schwindel im Sinne einer Aurasymptomatik erklärt wird |
Therapie: |
Triggerprophylaxe. Symptomatische Behandlung in der Attacke: Antiemetika zur Stabilisierung der Gleichgewichtsfunktion; bei mehr als drei Attacken pro Monat sollte eine medikamentöse Basisprophylaxe mit dem behandelnden Neurologen besprochen werden. Regelmässige körperliche Betätigung (Ausdauersport) und Stressabbau (z. B. Muskelrelaxation nach Jacobsen), vestibuläres Habituationstraining |
Psychosomatische Schwindelformen
Diese Art von Schwindel kann im Rahmen von unterschiedlichen Störungen auftreten wie z. B. Angsterkrankungen, Depression, Panikstörungen, Phobien oder Anpassungsstörungen. Am häufigsten tritt dieser jedoch in Folge einer organischen Schwindel-Ursache auf, und wird als sekundär somatoformer Schwankschwindel bezeichnet. Es handelt sich hierbei in der Altersgruppe zwischen dem 20. und 50. Lebensjahr um eine häufige Schwindelerkrankung. |
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Symptome: |
Meist diffuser, permanent vorhandener Benommenheitsschwindel, teils fluktuierender Charakter und autonome Begleitsymptome mit Übelkeit, Herzrasen, Schweissausbruch u. a. |
Klinischer Befund: |
In der Regel unauffällige klinische Untersuchung wie auch Zusatzdiagnostik, wobei bei vorausgegangener Schädigung des vestibulären Apparates dieser ein Restdefizit aufweisen kann |
Mechanismus: |
Physiologische Körperschwankungen werden vermehrt wahrgenommen, wodurch eine übersteigerte Kontrolle der Haltung resultiert. Häufig entwickeln Betroffene ein Vermeidungsverhalten (z. B. das Haus alleine zu verlassen, Einkaufen, usw.) |
Therapie: |
Körperliche Bewegung, Sport, Gleichgewichtstraining und angenehme Ablenkung führen meist zu einer Besserung der Beschwerden. Die weitere Therapie richtet sich nach der zugrundeliegenden psychosomatischen Erkrankung. Neben einer verhaltenstherapeutischen Intervention kann bei ausgeprägter Symptomatik eine antidepressiv-medikamentöse Therapie (z. B. SSRI) ergänzt werden. |